Rede des Bürgermeisters zum Volkstrauertag 2020

(vom 15.11.2020)

Liebe Bürgerinnen und Bürger,

aufgrund der aktuellen Pandemie-Lage konnten die öffentlichen Gedenkfeiern zum Volkstrauertag am 15. November 2020 nicht durchgeführt werden. In aller Stille haben die Ortsvorsteher unserer Ortsteile und ich der Opfer von Krieg und Gewalt gedacht und die Kränze im Namen der Stadt Sigmaringen niedergelegt.

Als am 8. Mai 1945 die Waffen endlich schwiegen, waren mehr als 55 Millionen Menschen tot. Gefallen an der Front, ermordet in Konzentrationslagern, verbrannt in Bombennächten, gestorben an Hunger, Kälte und Gewalt auf der großen Flucht.

Das Ende des Zweiten Weltkriegs jährt sich dieses Jahr zum 75. Mal.

Bei der Betrachtung der Geschichte hat ein Krieg einen festen Rahmen aus Jahreszahlen. Aus dem Rückblick ergibt das die beruhigende Gewissheit: In diesem zeithistorischen Kasten steckt der Krieg. Danach kam der Frieden, in dem wir, in westlichen Demokratien, gut leben. Frieden ist nicht selbstverständlich. Die Überwindung von Nationalismus und Rassismus, von Hass und Intoleranz, von Unterdrückung und Verfolgung braucht Mut und Ausdauer. Hier in Sigmaringen genießen wir heute ein Leben in Frieden und Freiheit, mitten in einem vereinten Europa. Doch damals, im Inneren des Kastens, kannte niemand dessen Dimension. Der Krieg tobte global, sein letzter Tag lag im Irgendwann einer ungewissen Zukunft.

In dieser unsicheren Zeit erlangte Sigmaringen eine unrühmliche Bekanntheit: Nach der Befreiung von Paris am 25. August 1944 war von Außenminister Joachim von Ribbentrop befohlen worden, die Kollaborationsregierung von Vichy nach Sigmaringen zu bringen. Die fürstliche Familie musste das Schloss verlassen. Philippe Pétain und seine Minister wurden im Schloss einquartiert und gut verpflegt. Ihr Aufenthaltsort zog zahlreiche französische Zivilisten an, die als Kollaborateure Vergeltung fürchteten. Die Stadt wuchs um mehr als ein Drittel. Einen Tag bevor die französischen Alliierten am 22. April 1945 in Sigmaringen einmarschierten, hatten sowohl die Vichy-Regierung als auch die aus Frankreich Geflohenen die Stadt verlassen. Sigmaringen wurde Teil der französischen Besatzungszone.

Mit der sogenannten „Stunde Null“ begann das Forträumen des Schutts. Städte erstanden auf, die Bundesrepublik Deutschland erlebte ihr Wirtschaftswunder. Und dennoch lag ein steiniger Weg vor Deutschland und Europa: Der Kalte Krieg versetzte die Menschen in eine Drohkulisse, schürte die Angst vor einem dritten Weltkrieg und teilte die ganze Welt in Ost und West – bis zum Mauerfall 1989.

Heute, hier vor Ort, in Sigmaringen, in Deutschland, in Europa leben wir in Frieden. Und genau in diesem Moment befinden sich über 4.000 deutsche Soldatinnen und Soldaten auf drei Kontinenten in 13 Einsätzen der Bundeswehr. Seit den 90er Jahren engagiert sich die deutsche Bundeswehr dauerhaft in Auslandseinsätzen. Anfangs in Bosnien, später in Kosovo bis zum Kampfeinsatz in Afghanistan. Aktuell ist die Truppe in Europa, Asien und Afrika sowie im Mittelmeer im Einsatz. Mit dieser Beteiligung leistet die Bundeswehr einen wesentlichen Beitrag zur weltweiten Sicherheit und Stabilität. In fernen Ländern bilden deutsche Soldatinnen und Soldaten die örtlichen Streitkräfte aus, beraten die nationalen Sicherheitsbehörden und sorgen für die sanitätsdienstliche Versorgung. Sie überwachen verschiedene Seegebiete, verhindern so zum Beispiel Piraterie und schützen die Transporte des World Food Programms. In Litauen sichert die Truppe mit ihren Bündnispartnern die Ostflanke der NATO. Zu unserer Sicherheit riskieren die Soldatinnen und Soldaten tagtäglich ihr Leben – und stehen dabei oftmals mitten im Krieg.

„Kriegsende“ ist ein tröstliches Wort. Der Krieg ist also an sein Ende gekommen, fast als sei er eine Art Jahreszeit gewesen. Wie ein Naturereignis beschreibt unsere Sprache seinen Anfang: „Der Krieg bricht aus“. Die Sprache verkleidet, was alle besser wissen: Kein Krieg bricht aus wie ein Vulkan. Menschen verantworten diese Kriege. Kriege, die hoffentlich, an einem Tag im Irgendwann einer ungewissen Zukunft, enden – als Voraussetzung für eine „Stunde Null“, in der der Schutt fortgeräumt wird, um die Städte wieder aufzubauen.

17 Millionen Tote des Ersten Weltkrieges und 55 Millionen Tote des Zweiten Weltkrieges sind das furchtbare Ergebnis von Nationalismus, Diktatur und Völkermord. Die Kriegsgräber und Gedenkstätten für die Toten und Vermissten sind Orte der Trauer und Erinnerungen. Sie mahnen uns zu Verständigung, Versöhnung und Frieden.

In Gedenken der Opfer von Gewalt und Kriegen zum Volkstrauertag 2020,

Ihr

Dr. Marcus Ehm
Bürgermeister

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